“Wie geht denn das mit dem Sein? Es ist toll, was ihr da im Rundbrief alles aufzählt und wie ihr untermauert, dass Gott vor dem Tun zum Sein einlädt, aber ich bin ein Mensch, der furchtbar schnell im Machen ist. Wie stelle ich es denn an, ins Sein zu kommen?”
So ähnlich klagte uns ein Leser des letzten Rundbriefes seine Not. Und, ich denke, viele von uns kennen das sehr gut.
Unser Leben ist oft geprägt vom Tun. Wir hetzen durchs Leben, von Termin zu Termin, von Aufgabe zu Aufgabe. Tun ist der Maßstab unserer Gesellschaft geworden – und je mehr wir tun, desto wertvoller fühlen wir uns.
Doch tief in uns spüren wir die Sehnsucht nach einem Ort, an dem wir einfach sein dürfen – so wie wir sind. Gott lädt uns genau dazu ein: in seiner Gegenwart anzukommen, aufzutanken und Frieden zu finden.
Jesus outet sich mal wieder als Meister der Herausforderung:
„Bleibt in mir, und ich bleibe in euch.“ (Johannes 15,4)
Acht Worte. Mehr braucht er nicht, um uns eine Aufgabe fürs ganze Leben zu stellen!
Seine Einladung klingt nach Ruhe, nach einem tiefen Atemzug, nach Ankommen. Jesus ruft uns nicht zuerst ins Tun, sondern ins Sein: bleiben, vertrauen, ruhen. Dabei geht es nicht um eine spirituelle Kür für besonders Fromme, sondern es gilt für uns alle!
Interessant und nicht zu vernachlässigen ist, dass jede Lebensphase ihre eigene Art hat, wie wir ins Sein finden können. Ein Blick in Psychologie, Neurologie und Soziologie zeigt: unser Gehirn, unsere Seele und unsere Beziehungen verändern sich mit der Zeit – und damit auch der Weg in die Stille und ins Sein vor Gott.
Kindheit
Die Kindheit ist die Lebensphase, in der Vertrauen Wurzeln schlägt. Hier geschehen die ersten wesentlichen Prägungen für unser ganzes Leben. Wir entwickeln soziale Fähigkeiten, knüpfen Freundschaften und es entsteht ein Verständnis für zwischenmenschliche Beziehungen.
Kinder sind Meister des Augenblicks. Sie lachen, wenn sie lachen wollen, sie fragen, wenn sie neugierig sind, sie lassen sich begeistern von einer Schnecke am Wegesrand. Ihr Gehirn ist wie ein Schwamm: Milliarden von Synapsen knüpfen sich, Erfahrungen werden in Windeseile gespeichert. Vor allem Bindung und Sicherheit sind entscheidend – das Gehirn braucht das Gefühl: „Ich bin willkommen, ich bin sicher.“ Aus diesem Vertrauen wächst die Fähigkeit, Neues zu wagen.
Gerade in der Kindheit können wir Räume eröffnen, in denen Sein wachsen darf: Nachmittage voller Spiel, Klettern, Matschen und Fantasie. Ein Erwachsener, der einfach da ist, ohne zu bewerten, schenkt dem Kind eine Botschaft fürs Leben: Du bist richtig, wie du bist. Solche Momente stärken innere Sicherheit und fördern Kreativität. Auch das Gehirn blüht auf, wenn es Zeit hat, Erfahrungen zu verarbeiten – das sogenannte Default Mode Network sortiert Erlebtes, damit daraus Lernen wird.
Vielleicht magst du heute selbst Kind sein: Barfuß durchs Gras laufen, einen Papierflieger falten, Seifenblasen pusten, einen Drachen steigen lassen. Spür, wie sich dein Atem verlangsamt und die Gedanken stiller werden.
Jesus sagt:
„Lasst die Kinder zu mir kommen.“ (Markus 10,14).
Stell dir vor, wie du als Kind zu Jesus kommst. Er hebt dich hoch, setzt dich auf seinen Schoß. Du musst nichts leisten, nichts erklären – nur da sein. Vielleicht erzählst du ihm heute Abend deinen Tag – so wie ein Kind seinem Vater.

Jugend
Die Jugendzeit ist eine Zeit des Übergangs. Der Körper wächst, das Gehirn wird umgebaut – vor allem der präfrontale Kortex, der für Planen, Entscheiden und Selbstkontrolle zuständig ist. Deshalb fühlt sich manches chaotisch an: starke Emotionen, schnelle Entscheidungen, das Bedürfnis nach Anerkennung. Likes und Kommentare wirken wie kleine Glücks-Kicks, die kurz gut tun, aber oft leer zurücklassen. Dieses emotionale Auf und Ab ist kein Fehler, sondern Teil des Lernprozesses – das Gehirn probiert aus, was funktioniert.
Die große Frage dieser Lebensphase lautet: Wer bin ich? – und sie wird oft über Leistung, Aussehen oder Gruppenzugehörigkeit beantwortet. Umso wichtiger sind sichere Räume, in denen Jugendliche sich ausprobieren dürfen, ohne bewertet zu werden. Freundschaften, Mentoren oder eine offene Jugendgruppe können solche Räume sein. Auch kreative Tätigkeiten – Musik, Schreiben, Sport, Gaming – helfen, Identität zu formen.
Nimm dir heute einen Zettel und notiere drei Sätze, die dich beschreiben – nicht, was du tust, sondern wer du bist. Lies sie dir laut vor. Ergänze sie jeden Tag eine Woche lang. So wächst ein inneres Bild von dir selbst.
Gott spricht:
„Ich habe dich bei deinem Namen gerufen – du gehörst mir.“ (Jesaja 43,1).
Vielleicht magst du diesen Vers auf deinen Spiegel kleben oder als Bildschirmhintergrund speichern. Lies ihn jeden Morgen und stell dir vor, wie Gott dich beim Namen ruft – liebevoll, ohne Bedingungen.

Erwachsenenalter
Im Erwachsenenalter überschlagen sich die Rollen: Job, Partnerschaft, Kinder, Freundschaften, Ehrenamt. Wir jonglieren Termine, halten Projekte am Laufen, denken an Geburtstage, erledigen Mails - ein Wirbelsturm
der Aufgaben.
Unser Gehirn funktioniert erstaunlich gut unter Druck, aber es braucht Pausen – sonst bleiben die Stresshormone dauerhaft hoch, Kreativität und Lebensfreude gehen verloren. Chronischer Stress macht uns innerlich eng, die Fähigkeit, Freude zu empfinden, nimmt ab.
Sein ist in dieser Phase oft eine bewusste Entscheidung. Vielleicht braucht es feste kleine Rituale: fünf Minuten Stille am Morgen, ein Spaziergang ohne Handy, einmal pro Woche bewusst nichts planen. Neurowissenschaftler zeigen, dass solche Pausen das Nervensystem beruhigen, die Amygdala entlasten und die Wahrnehmung schärfen. Auch soziale Verbundenheit ist entscheidend: ein echtes Gespräch, ein gemeinsames Essen ohne Ablenkung.
Setz dich heute fünf Minuten hin, schließe die Augen, atme tief ein und länger aus. Stell dir vor, wie du Gott alles hinhältst – die To-do-Liste, die Sorgen, die Erwartungen. Lausche, ob er etwas in dein Herz legt. Vielleicht schreibst du danach einen Satz auf, der bleibt.
Jesus ruft:
„Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid.“ (Matthäus 11,28).
Stell dir vor, wie du einen schweren Rucksack abstellst. Jesus sieht dich an – freundlich, ohne Druck. Du gehst zurück in den Alltag – leichter, freier, neu ausgerichtet.

Alter
Das Alter ist eine Zeit des Loslassens und zugleich der Ernte. Manche Aufgaben fallen weg, manches gelingt nicht mehr wie früher. Das kann schmerzen – und doch liegt darin eine große Chance: das Wesentliche neu zu entdecken. Beziehungen werden kostbarer, kleine Momente bedeutsamer. Neurowissenschaftliche Studien zeigen, dass das Gehirn im Alter oft stärker auf Positives fokussiert. Dankbarkeit fällt leichter, Gelassenheit wächst.
Vielleicht ist dies die Zeit, die eigene Lebensgeschichte bewusst zu betrachten: Was war gut? Wo ist noch etwas offen? Was möchte ich weitergeben? Menschen, die ihre Erfahrungen teilen, werden zu wertvollen Mentoren für Jüngere. Geschichten sind wie Brücken, die die Generationen verbinden.
Auch der Glaube kann in dieser Phase reifer werden – weniger geprägt von Aktivismus, mehr von Ruhe. Gebet wird einfacher, manchmal wortlos.
Vielleicht magst du drei Dinge aufschreiben, für die du heute dankbar bist – vielleicht eine Begegnung, ein Lied, ein Sonnenstrahl. Lies die Liste laut und bete sie zurück an Gott.
„Du stellst meine Füße auf weiten Raum.“ (Psalm 31,9)
Stell dir vor, wie Gott dir Raum gibt – innerlich, äußerlich. Vielleicht ist jetzt der Moment, Frieden zu schließen mit Menschen, mit dir selbst – und dich von Gott neu beschenken zu lassen.
Jede Lebensphase bringt ihre eigenen Herausforderungen mit sich – und damit auch ihre eigenen Wege ins Sein vor Gott. Das ist nicht nur normal, sondern ein Geschenk: Gott begegnet uns immer so, wie wir es gerade brauchen. Vielleicht ist dein Weg gerade holprig oder voller Fragen, vielleicht suchend oder dankbar. Sag heute ein bewusstes JA zu deiner Lebenssituation. Du darfst annehmen, wo du stehst – und darin Ruhe und Frieden finden.




