Die Anfänge der Pharisäer Teil 2/2

Zur Zeit Jesu waren die Pharisäer eine schriftgelehrte Laienbewegung, die sich durch Genauigkeit und Gewissenhaftigkeit (griech. Akribeia) auszeichnete. Sie war davon beseelt, Torastudium und Toragehorsam unter’s Volk zu bringen. Für sie stand die “Tora*1 für alle” im Mittelpunkt, wie sie am Sinai dem ganzen Volk zur Befolgung gegeben worden war:  “Und Mose rief ganz Israel zusammen und sprach zu ihnen: Höre, Israel, die Gebote und Rechte, die ich heute vor euren Ohren rede, und lernt sie und bewahrt sie, dass ihr danach tut!” (5 Mose 5,1). 

Wurden diese „Gebote und Rechte“ durch die Politik oder das Geschick des Landes durch Exil oder Fremdherrschaft in Frage gestellt, reagierten die Pharisäer. Sie errichteten einen „Zaun“ um die Tora, ersannen neue Normen, damit sie nicht schleichend von innen ausgehöhlt oder durch Druck von außen verlustig ging.

Die beteiligten Schriftgelehrten gewannen bald Einfluss, da von ihnen die richtige Auslegung der Tora erwartet wurde. Im Evangelium nach Lukas tritt Jesus als Zwölfjähriger im Tempel als ein versierter Schriftgelehrter auf:  “Und es begab sich nach drei Tagen, da fanden sie (= Maria und Josef) ihn im Tempel sitzen, mitten unter den Lehrern, wie er ihnen zuhörte und sie fragte. Und alle, die ihm zuhörten, verwunderten sich über seinen Verstand und seine Antworten”(2,46f).
Jesus wächst in der Geschichte und Religion seines jüdischen Volkes auf. In ihr bewegt er sich offensichtlich seit Kindertagen wie der Fisch im Wasser und zeigt gegenüber der pharisäischen Bewegung eine frühe Affinität und Nähe. In aller Botschaft, die wir von ihm hören und empfangen, treibt er jüdische Schriftauslegung.

Jesus - der jüdische Schriftgelehrte
Bei seinen Diskussionen und Streitgesprächen mit den Pharisäern geht es ihm und ihnen um die Frage, wie Gottes Wort und Weisung (= Tora) im alltäglichen Leben verantwortungsvoll vor dem Ewigen gelebt werden kann. Dass über diese Frage engagiert und konträr diskutiert wurde, ist kein Phänomen, das sich erstmalig mit dem Auftreten Jesu im Judentum zeigte. Vielmehr stimmt Jesus mit seinen Auslegungen in eine über Jahrhunderte gewachsene jüdische Diskussions- und Streitkultur ein und führt sie fort. Vieles von dem, was er dabei äußert, scheint uns Christen revolutionär. Für seine jüdischen Zuhörer damals war es das aber nicht, weil Jesus bereits an lang vorhandene, jedoch in den Hintergrund geratene Schriftauslegungen erinnerte und die Pharisäer mit diesen Traditionen wieder konfrontierte. 

So wird deutlich: Jesus bringt im originellen, im ursprünglichen Sinn keine neue Lehre. Er gräbt tief im damals vorhandenen jüdischen Schrift- und Auslegungsfundus und legt die Bibel mit der Bibel aus und - mit seinem Leben, in dem er die Tora Gottes verwirklicht. Jesus wollte ein revitalisiertes Judentum*2 im Rahmen jüdischer Torafrömmigkeit. Handelt es sich bei der Tora doch um das Urevangelium, das Gott durch seinen Bund mit Israel zur Welt bringt: „Die Tora ist die Erlösung aus dem Chaos der Orientierungslosigkeit und die Ausrichtung auf ein Ziel hin.“*3
So kann sich eine von christlicher Theologie konstruierte unüberbrückbare Differenz oder gar Feindschaft zwischen Jesus und den Pharisäern bzw. Schriftgelehrten nicht auf das Zeugnis des Neuen Testaments berufen. Im Evangelium nach Matthäus lässt Jesus seine Nachfolger unmissverständlich wissen: “Alles nun, was sie (= Schriftgelehrte und Pharisäer) euch sagen, das tut und haltet; aber nach ihren Werken sollt ihr nicht handeln; denn sie sagen’s zwar, tun’s aber nicht” (23,2).

Demnach haben die Pharisäer die richtige Lehre, aber an ihrer Umsetzung hapert’s.*4 Das kritisiert Jesus. Die Tora selbst bleibt für ihn und seine Nachfolger in Geltung. 
Daran lässt er schon zu Beginn im Evangelium nach Matthäus keinen Zweifel aufkommen: “Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz (= Tora) oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen.  Denn wahrlich, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz bis es alles geschieht.  Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute so, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich” (5,17 -19).

Als man ihn nach dem Weg zum ewigen Leben fragte, verwies er auf die Gebote der Tora:  Und siehe, da stand ein Gesetzeslehrer auf, versuchte ihn und sprach: , was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? aber sprach zu ihm: steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? ​Er antwortete und sprach: ​»Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt, deinen Nächsten wie dich selbst«.  Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben” (Lk 10, 25 - 28). ​​
Von daher verwundert es nicht, wenn die neutestamentliche Forschung zunehmend die Auffassung vertritt, dass Jesus den Pharisäern nahestand, vielleicht sogar einer von ihnen war. Gerade auch die Häufigkeit und Heftigkeit seiner Auseinandersetzungen mit ihnen lassen darauf schließen. Zudem fällt auf: Als Jesu Leidensweg beginnt, spielen die Pharisäer in den Erzählungen der vier Evangelisten kaum noch eine Rolle. Sie treten von der Bühne ab. Als ob sie sich in Luft aufgelöst hätten, tauchen sie bei der Auslieferung, Verurteilung und Kreuzigung Jesu nicht mehr auf. 

Vielmehr heißt es schon früh im Evangelium nach Lukas: “Zu dieser Stunde kamen einige Pharisäer und sprachen zu ihm: Mach dich auf und geh weg von hier; denn Herodes will dich töten” (13,31).” Hier sind offenbar Pharisäer um das Leben Jesu besorgt. Warum sollten sie das sein, wenn er ihnen nicht nahestand?

Es bleibt festzuhalten: Jesus setzt sich mit den Lehrtraditionen seiner Zeit auseinander. tut er im Besonderen in der Diskussionen mit den Schriftgelehrten/Pharisäern. Dabei ging es häufig um die Stellung des jüdischen Gesetzes, dessen korrekte Auslegung. Natürlich war Jesus, wie andere Lehrer auch, in vielen Fragen der Gesetzesauslegung anderer Meinung als manche seiner Zeitgenossen. Er beteiligte sich als Lehrer an der Diskussion über die richtige Auslegung des Gesetzes, ohne damit die Tora als solche — oder deren mündliche Auslegung als solche — infrage zu stellen. 

​“Dennoch sind viele Christen der festen Überzeugung, dass Jesus sich nicht an die jüdischen Gesetze hielt. Manche glauben sogar, dass er kam, um die Menschen vom Gesetz zu befreien.  wenige Christen sehen sogar den Kern des Evangeliums - der guten Botschaft - in der Freiheit vom Gesetz.“*5 

Das hier ein grobes Missverständnis vorliegt, wird deutlich, wenn man sich tatsächlich einmal die Mühe macht, die Streitgespräche Jesu mit den Pharisäern/Schriftgelehrten Wort für Wort auszulegen und sich ihnen nicht mit einem lang antrainierten Vorverständnis bzw. -urteil zu nähern. Dann wird es richtig spannend!

 

*1 In den deutschen Bibelübersetzungen wird das griechische Wort “nomos” mit “Gesetz” wiedergegeben. Damit verbindet der Leser im deutschen Sprachraum andere Vorstellungen, als im neutestamentlichen Urtext gemeint sind. Nach meiner Kenntnis übersetzt bisher nur die “Bibel in gerechter Sprache” das Wort “nomos” mit “Tora”, was dem jüdischen Entstehungskontext der Evangelien entspricht.  

*2 Hubertus Halbfas, Die Bibel erschlossen und kommentiert von H.H., Düsseldorf 2001, 370

*3 Johannes Gerloff, Jerusalem 2023, mündlich

*4  Johannes Gerloff, Jerusalem 2023, mündlich

*5  Guido Baltes, Jesus, der Jude und die Missverständnisse der Christen, Marburg 2015, 105