Im Sein SEIN sein
Ergebnisse vorweisen, auf der schulinternen Liste für sportliche Leistungen ganz oben mitmischen, gute Abschlüsse erzielen, To-do-Listen abhaken - die Liste ließe sich fortsetzen. Auch im Glaubensleben ruft die Versuchung: genügend Stille Zeit machen, angesagte Kongresse besuchen, eine rechtschaffene Familie sein, sich in der Gemeinde engagieren. Diese Liste ließe sich auch fortsetzen.
Die Gefahr liegt nicht im Tun dieser Dinge, gefährlich wird es, wenn das Eigentliche, das, was wirklich nährt und stärkt, dadurch ersetzt wird, also nicht gelebt werden kann. Das ist nichts Neues unter der Sonne. Nicht das Machen für Gott, sondern das Sein bei ihm und in ihm, wie unsere Geschwister der Mystik sagen würden, ist schon seit “Anbeginn der Welt” ein Thema.
Auf den ersten Seiten der Bibel beim Abendspaziergang vermisst Gott seine Menschen “und der HERR, Gott, rief den Menschen und sprach zu ihm: Wo bist du?” (Gen 3,9 Elb) Er möchte sie um sich haben, auch wenn sie gerade im Begriff sind, sich aus dem Paradies zu katapultieren. Wo bist du? U.a. kommt Gottes Sehnsucht hier zum Ausdruck.
Der jüdische Rabbiner Abraham Heschel (1907-1972) schreibt in seinem Buch (God in Search of Man. A Philosophy of Judaism.) “Die ganze menschliche Geschichte, wie die Bibel sie sieht, kann in einem Satz zusammengefasst werden: Gott ist auf der Suche nach dem Menschen.” (S.104). Gott will also ausdrücklich Beziehung. Er sammelt keine Trophäen.
Heschel beschreibt, dass Gott durch die Bundesschlüsse die persönliche Beziehung mit den Menschen sucht. (im AT: Noah, Abraham, Mose und David)
Im Neuen Testament wird durch und in Jesus Christus der Neue Bund geschlossen, der eine Erneuerung und Vollendung des alten Bundes darstellt.
Jesus kommt von Gott zu den Menschen und will mit und unter ihnen sein (Joh 1). Er sammelt keine Putzkolonne und beruft sich kein Expertenteam für seine Firma. Er geht und sammelt Brüder und Schwestern um sich, mit denen er in erster Linie zusammenlebt, weint, isst, trinkt und sie für immer um sich haben möchte. Ich will euch alle zu mir ziehen (Joh 12,32). Der Rabbi betete jeden Morgen Hosea 2,21f. Gott sagt: „Ich will mich mit dir verloben für alle Ewigkeit, ich will mich mit dir verloben in Gerechtigkeit und Recht, in Gnade und Barmherzigkeit. Ja, in Treue will ich mich mit dir verloben, und du wirst den Herrn erkennen.“ Gottes Suche nach uns Menschen, sein Werben um uns hat eine so tiefe Vereinigung zum Ziel, Verbunden-Sein in Ewigkeit.
In unserer Kapelle, dem sog. Stall, sitzt eine Gruppe Kirchvorsteher zur Einführung in die Stille. Sie sprechen darüber, was die größten Bedenken sind, so einen Vormittag in der Stille zu sein - alles nachvollziehbare Argumente und Gedanken. Eine Person meinte: “Meine größte Sorge ist, dass ich den Schalter nicht finden kann, um auf Stille zu switchen.” Darüber braucht sich niemand Sorgen zu machen, denn diesen Schalter gibt es nicht. Still werden geschieht - höchst individuell. Natürlich können wir ein paar Weichen stellen. Doch ist und bleibt es Geschenk. Beides greift ineinander: Der Wunsch und die Bitte des Menschen und die Größe und das Wirken Gottes.
Im bekannten Lied “Gott ist gegenwärtig” von Gerhard Tersteegen (1697-1769) kommt das in folgenden Strophen zum Ausdruck (EG 165, 5-6).:
Luft, die alles füllet,
drin wir immer schweben,
Aller Dinge Grund und Leben.
Meer ohn Grund und Ende,
Wunder aller Wunder,
Ich senk mich in dich hinunter.
Ich in dir, du in mir,
Lass mich ganz verschwinden, d
ich nur sehn und finden.
Du durchdringest alles;
lass dein schönstes Lichte,
Herr, berühren mein Gesichte.
Wie die zarten Blumen
willig sich entfalten
Und der Sonne stille halten,
Lass mich so, still und froh
Deine Strahlen fassen
und dich wirken lassen.
Auch, wenn wir im Alltag vom Machen und Handeln bestimmt sind, steht dem gegenüber die Wahrheit, Gott ist nicht verfügbar. Ich kann nicht machen, dass ich Gott begegne und dennoch ist er der barmherzige Vater, der sich seiner Söhne und Töchter erbarmt.
Jesus ruft in Matth 11, 28 ff diejenigen zu sich, die mühselig und beladen sind. Roland Werner übersetzt:
„Kommt zu mir! Alle, die ihr am Ende seid, abgearbeitet und mutlos: Ich will euch Erholung und neue Kraft schenken. Lebt im Einklang mit mir und lernt von mir! Denn ich bin voller Sanftmut gegenüber allen und bin geprägt von wahrer Demut. Wenn ihr mich zum Vorbild nehmt, wird euer ganzes Leben zur Ruhe kommen. Wenn ihr mit mir im Gleichklang lebt, könnt ihr aufblühen. Die Lasten, die ich euch zu tragen gebe, sind leicht.« (Das Buch)
Jesus will Erholung, Erfrischung schenken, allerdings entlässt er uns dann nicht wieder in die alte Maschinerie. Es besteht die Gefahr, das Sein vor Gott zu instrumentalisieren in dem Sinne, dass ich mir von einer Zeit in Gottes Gegenwart erhoffe, wieder fit und leistungsfähig zu werden, um gerade so weitermachen zu können, wie vorher. Doch Gottesbegegnung, “seine Strahlen fassen und ihn wirken lassen” ist, es sich genügen lassen, in seiner Gegenwart zu SEIN.
Jesus sagt: Lernt von mir. Und mit Luthers Begriff Joch - ein Gestell aus Holz, das Zugtiere vor einen Pflug oder einen Wagen spannt, zeigt R. Werner, dass Jesus seine Jünger bei sich einspannt und sie dann im gleichen Schrittmaß gehen, dem Einklang. Der Gleichklang lässt aufblühen. In ihm werden wir Ruhe finden für unsere Seelen, so Luther.
Immer wieder begegne ich Menschen, die sich genau danach sehnen – Ruhe für die Seele, im Einklang mit Gott sein, darin tiefer seine Wahrheit erfassen, endlich mal Zeit haben, die Bibel zu lesen. Das Wissen vom Kopf ins Herz rutschen zu lassen. Wer kennt das nicht?
Ignatius weiß: „Nicht das Vielwissen sättigt die Seele und gibt ihr Befriedigung, sondern das innere Schauen und Verkosten der Dinge.“
Und in einem Gebet von Augustinus (354-430) wird uns ein Blick in sein Herz gewährt:
Herr, du bist groß
und hoch zu loben…
wir sollen dich loben
aus fröhlichem Herzen;
denn du hast uns
auf dich hin geschaffen,
und unruhig ist unser Herz,
bis es Ruhe findet in dir.
Wer gibt mir,
dass ich Ruhe finde in dir?
Wer gibt mir,
dass du in mein Herz kommst
und es trunken machst,
damit ich alles Schlechte
hinter mir lasse und
mein einziges Gut umfange - dich?
Hier lesen wir, dass wir es nicht in der Tasche haben. Sein bei Gott liegt nicht im Machbaren. Ein so weiser und bedeutender Kirchenvater ist auch mit diesen Fragen unterwegs. Das ist tröstlich.
Dennoch, wie kann man darin weiterkommen, im Sein bei Gott wachsen? Nachfolge ist ein anderes Wort für Übung. Die Gemeinschaft der Jesuiten hat von ihrem Gründer Ignatius gelernt, dass es Übung(en) bedarf. Er schreibt sie auf für seine Brüder, die ignatianischen Exerzitien. Sie werden bis heute praktiziert. Das Sein will eingeübt werden. „Das Glaubensgeheimnis bedarf meditativer Einübung, damit es vom Kopf ins Herz und vom Herz ins Leben fließen kann. ... Die Grundübung besteht darin, wie eine Antenne ganz auf Empfang umzustellen und mit allen Sinnen in die Wahrnehmung zu kommen: Schauen, Lauschen, Riechen, Verspüren, was sich jetzt im Moment gerade im Herzen zeigen will. Im Unterschied zum Nachdenken oder Problemlösen ist das kein aktives Handeln, sondern ein so genanntes kontemplatives Verhalten. Im Unterschied zu einer Antenne bleibt es aber nicht beim reinen Empfangen. Der Beter kann in einen inneren Dialog treten mit dem, der ihn – und das ist das Fundament – in Liebe begleitet. Der hierbei geübte Dialog mit Gott verändert das Leben zum „Besseren“. Das ist die Grundüberzeugung des Heiligen Ignatius. „In allem Gott Finden“ ist die Ausrichtung des betenden Menschen, der alles, aber auch wirklich alles, was er erlebt, fühlt und denkt, mit Gott teilen und von ihm her neu verstehen lernen möchte. Stille und Abgeschiedenheit können dabei sehr helfen.“ (jesuiten.org)
Leonard Bernstein (1918-1990) beschreibt Stille und den ihr innewohnenden Schatz folgendermaßen:
„Stille ist unsere höchste Form der Aktivität. Jede Idee, jedes echte Gefühl und jeder Impuls, deren Verwirklichung wir schließlich als Aktivität bezeichnen, entsteht in einem Moment tiefer Stille in uns. Im Traum leben wir unser intensivstes Gefühlsleben; im Schlaf vollzieht sich die aktivste Erneuerung unserer Körperzellen. Nie gelangen wir höher als in der Meditation, nie weiter als im Gebet. In der Stille erhält jeder Mensch die Möglichkeit zur Größe; er wird frei von den Klammern der Feindseligkeit, wird ein Dichter und vielleicht sogar ein Engel. Stille erfordert jedoch eine große Disziplin, man muss sie sich erarbeiten und das macht sie umso kostbarer.“
Auch Bernhard von Clairvaux (1090-1153) weiß um Disziplin: „Christus ist der Berg. Glücklich, wer diesen beseligenden Berg mit so viel Sehnsucht und Ausdauer bestiegen hat, dass er an diesem heiligen Ort seine Bleibe erhält.“
Etliche Jahre später erklärt der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer (1906-1945): „Stille vor Gott bedarf der Arbeit und der Übung. Sie bedarf des täglichen Mutes, sich Gottes Wort auszusetzen und von ihm richten zu lassen, bedarf der täglichen Frische, sich an Gottes Liebe zu freuen.“
“Bei mir werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen”. Das war schon immer eine Notwendigkeit!
Durch alle Jahrhunderte hindurch finden wir Schriftstücke dazu, die auf unterschiedliche Weise diese Wahrheit illustrieren. Von König David bis ins heutige Jahrhundert. Auch von ihnen können wir lernen, ähnlich wie von Jesus:
Der heilige Pfarrer von Ars (1786-1859) berichtet von einem Mann, der lange Zeit in der Kirche vor dem Tabernakel saß. Auf seine Frage, was er hier mache, bekam er zur Antwort: “Ich schaue Ihn an, und Er schaut mich an.“ (kath. Katechismus)
„Eine Weile nichts zu tun, nur absichtslos da sein, heißt wach werden für die Sättigung Gottes.“ notiert Johannes vom Kreuz (1542-1591).
„In dir sein, Gott, das ist alles”, so Jörg Zink (1922-2016) im gleichnamigen Buch “Das ist das Ganze, das Vollkommene, das Heilende. Die leiblichen Augen schließen, die Augen des Herzens öffnen und eintauchen in deine Gegenwart.“
Ein starkes Bild mit viel Ausstrahlung malt der Beter von Psalm 131 in Vers zwei: „Ich ließ meine Seele zur Ruhe kommen, ganz ruhig ist sie. Wie ein gestilltes Kind bei seiner Mutter, wie ein gestilltes Kind ist meine Seele in mir.“ (König David ca.1000 v.Chr.) Hier lohnt es sich zu verharren und die Szene vor dem inneren Auge entstehen zu lassen.
Der zeitgenössische Theologieprofessor Peter Zimmerling (*1958) aus Leipzig, meint, heute könne innere Einkehr „ein Gegenprogramm zur Erregungsgesellschaft“ bieten (efo-magazin.de). Das Gegenprogramm zu ständig neuen Impulsen. Gegenprogramm für die von schnell wechselnden Bildern, doppelt so schnell abgespulten Nachrichten, stark erhöhten Dezibelwerten erregten Nervenstränge. Ruhe für eure Seelen!
Es liegt klar auf der Hand: Das geht nicht so schnell, nicht auf Knopfdruck. Es braucht neben der Gnade Gottes, Geduld im Sinne von Wiederholung, ein paar flankierende Maßnahmen, am besten Leute, die mit uns auf diesem Weg und im Gespräch sind und auch ein Trostwort eines Erfahrenen:
„Wenn dein Herz wandert oder leidet, bringe es behutsam an seinen Platz zurück und versetze es sanft in die Gegenwart Gottes. Und wenn du in deinem Leben nichts anderes getan hast, außer dein Herz zurückzubringen und wieder in die Gegenwart Gottes zu versetzen, obwohl es jedes Mal wieder fortlief, nachdem du es zurückgeholt hattest, dann hast du dein Leben erfüllt.“ (Franz v. Sales 1567-1622)
