Gemeinschaftslos?!

Gemeinschaftslos? – Entscheidungslos? – Orientierungslos? - Eine "Trilogie existentieller Fragen”

Stimmt das überhaupt? Gemeinschaftslos? Leben wir tatsächlich in einer gemeinschaftslosen Gesellschaft? Nach etwas Überlegung muss ich zugeben, dass in diesem pointierten Wortspiel sehr viel aktuelle und brisante Wahrheit steckt.  

Wir leben in der sogenannten Spätmoderne - oder auch Postmoderne. Neben vielen anderen Merkmalen zeichnet diese Epoche sich durch Toleranz, Freiheit sowie radikale Pluralität in Gesellschaft, Kunst und Kultur aus. Alles ist möglich. Alles darf sein. Zur Definition gehört aber auch der Verlust von traditionellen Bindungen, von Solidarität und eines allgemeinen Gemeinschaftsgefühls. Der Individualismus streitet sich mit der Selbstdarstellung um den ersten Platz auf dem Treppchen des Werte-Wettbewerbs. Das soziale Leben – besonders in großen Teilen der jungen Generation – wird auf ein kleines, rechteckiges, flimmerndes Kästchen begrenzt. Aber was ist, wenn das Smartphone einmal keinen Empfang hat? 

Der derzeit vielzitierte Soziologe Hartmut Rosa widmete dem Leben in der Spätmoderne einen Essay, der mir sehr gefällt, denn er wirft den Blick in die wirkliche Lebenswelt der Menschen und kratzt nicht nur an der theoretischen Oberfläche. Er beschreibt, dass Menschen in der spätmodernen Gesellschaft in ihrem Alltag so viele soziale Kontakte in so kurzer Zeit haben, dass sie völlig übersättigt sind. Das war früher anders. Da hat sich am sozialen Umfeld eines Menschen nicht viel geändert. “Es gab Veränderungen aufgrund von Geburten oder Todesfällen, aber von einer Stadt in eine andere umzuziehen – oder gar in einen anderen Staat oder ein anders Land – war schwierig. Die Anzahl der Beziehungen, die in der Welt von heute aufrechterhalten werden, steht in völligem Kontrast dazu. Wenn man die eigene Familie rechnet, die Morgennachrichten im Fernsehen, das Autoradio, die Kollegen im Zug und die Lokalzeitung, ist der normale Berufspendler (in Form von Ansichten oder Bildern) in den ersten zwei Stunden eines Tages mit so vielen verschiedenen Personen konfrontiert, wie sein Vorfahre es in seiner Heimatgemeinde in einem ganzen Monat war.” (Rosa 2018, 141ff.) "Durch die Technologien dieses Jahrhunderts, durch die Menge und die Vielfalt der Beziehungen, in die wir einbezogen sind, nehmen die mögliche Häufigkeit der Kontakte, die Intensität der Beziehungen sowie ihre Dauerhaftigkeit ständig zu.” (Gergen 1996) Da verwundert es nicht, dass der postmoderne Mensch an seine Grenzen stößt und tendenziell “beziehungssatt” ist. Rosa beschreibt weiter, dass die Häufigkeit der Kontakte es strukturell unwahrscheinlich macht, “dass wir wirklich “in Beziehung” zueinander treten. Auch unter Zeitdruck ist es möglich, Informationen auszutauschen und sachbezogen zu kooperieren, aber über die Lebensgeschichte des anderen und seine persönlichen Probleme will man lieber nichts erfahren. Ja, wir können gerne nach der Arbeit Einen trinken, aber verzichten wir doch lieber darauf, uns unsere Lebensgeschichten zu erzählen und eine echte Beziehung einzugehen. Die Etablierung solcher Beziehungen ist viel zu zeitaufwendig und ihre Auflösung viel zu schmerzhalft in einer Welt kurzlebiger Begegnungen.” 

Dabei sind stabile und qualitative soziale Beziehungen so wichtig und ein wesentlicher Baustein für unsere Identität. Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber hat es unübertroffen treffend auf den Punkt gebracht: “Der Mensch wird am DU zum ICH.” (Buber 1993) Wir brauchen stabile, Orientierung stiftende soziale Beziehungen, sonst ist unsere Identität, unser Selbstverständnis in Gefahr. (Vgl. Rosa 2018, S. 143) 

Ein Blick in die Psychologie macht deutlich, dass wir alle neben unseren physischen Bedürfnissen nach Essen, Trinken oder Schlafen oder psychischen Bedürfnissen nach Sicherheit, Spiel, Erholung oder Autonomie (nach Marshall Rosenberg) auch Beziehungsbedürfnisse haben. Diese Bedürfnisse existieren im Kontakt mit anderen Menschen und finden sich in allen Beziehungsformen. Richard G. Erskine offeriert ein Modell von acht Beziehungsbedürfnissen - siehe Grafik. (Erskine 2008 und 1990) 

Lebensgemeinschaft im Praxistest 

Als Soziologe liebe ich die Theorie, aber trotz meines Studiums, das mir jeglichen Versuch zur Anwendung in der Praxis, in der alltäglichen Lebenswirklichkeit der Menschen madig machen wollte, will ich es auch heute noch wissen. Wie sieht es in der Praxis aus? Wie sieht es in meinem ganz persönlichen Alltag aus? Gibt mir die Lebensgemeinschaft als Lebensform Antworten auf meine zutiefst menschlichen Bedürfnisse in Beziehungen und wirkt sich somit in positiver Weise identitätsstiftend aus?  

Nach nahezu 11 Jahren Lebensgemeinschaft löst diese Frage in mir einen sehr komplexen Antwortkatalog aus. Eine Gemeinschaft ist schließlich nicht dazu da, meine Bedürfnisse zu erfüllen. Bei aller Einseitigkeit und Beschränktheit der Frage gibt es aber auch eine sehr simple Antwort: JA. Ja, bei allen Höhen und Tiefen, die einem idyllischen, unbeschwerten und sorgenfreien Ponnyhof weiß Gott nicht ähneln.  

1. Ja, ich fühle mich körperlich und emotional sicher aufgehoben.  

2. Ja, ich werde mit meinen Gefühlen, Empfindungen und Realitätswahrnehmungen wertgeschätzt, verstanden und ernstgenommen.  

3. Ja, ich werde akzeptiert, ermutigt und geschützt.  

4. Ja, die anderen teilen meine Erfahrungen und vollziehen diese nach.  

5. Ja, ich darf einfach ich sein und werde in meiner persönlichen Einmaligkeit bestätigt.  

6. Ja, mein Fühlen, Handeln und Reden hat Einfluss und Wirkung auf die Anderen. 

7. Ja, ich erlebe, dass andere auf mich zukommen und von sich aus aktiv werden und damit mich aktivieren. 

8. Ja, ich darf den anderen durch Fürsorge, Dankbarkeit, Wertschätzung und Taten meine Liebe ausdrücken. (Vgl. Erskine 1999)

Und, ja, diese 8 Antworten prägten mich, beeinflussten meine Persönlichkeitsentwicklung positiv und wirkten somit identitätsstiftend. Mein Blick auf mich selbst wurde klarer und reflektierter. Inmitten der postmodernen Gesellschaft erlebte ich Gemeinschaft, die mir Hoffnung gab.

Dr. Markus Müller spricht mir aus dem Herzen, wenn er eins seiner größten Anliegen zum Ausdruck bringt: “In einer entmitteten Gesellschaft gilt es Orte der Wahrheit, der Barmherzigkeit und der Hoffnung zu schaffen. Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder es gelingt den Menschen, solche Orte zu schaffen oder “es haut uns raus” (aus der rasend schnellen Gesellschaft mit ihren enormen Zentrifugalkräften, Anm. d. Verf.). In einer entmitteten Gesellschaft sind solche Orte überlebensnotwendig für ein Land wie unseres. Gibt es unter uns Orte der Hoffnung, Wahrheit und Barmherzigkeit?” (Müller 2008) Menschen brauchen solche Orte - Orte der Gemeinschaft. Das muss keine Lebensgemeinschaft sein. Gar nicht! Auch ein intakter Familienverband, eine rege Dorfgemeinschaft, ein aktiver Verein oder ein intensiver Freundeskreis kann ein solcher Ort sein. Ganz besonders prädestiniert sind unsere Gemeinden, denn “Jetzt schon können wir sagen, dass es im Hinblick auf eine künftige Gesellschaft entscheidend darauf ankommt, ob es den Christen gelingt, als Licht und Salz Orte und Milieus zu schaffen, in denen Lebenskultur eingeübt werden kann. Freiwillig eingegangene Verbindlichkeit dürfte eines der Kernmerkmale sein. Es gibt eine Bildung darauf hin. Verkündigung, aber auch viel Begegnung von Herz zu Herz wird elementar sein.” (Müller ebd.) 

Es stimmt also. Gemeinschaft ist eine Antwort auf wesentliche Fragen unserer Zeit. Wo auch immer sich Gemeinschaft in Jean Vaniers Sinne (Vanier 1999) als Ort der Zugehörigkeit, Öffnung, gegenseitiger Liebe, Verbundenheit und Zusammenarbeit, der Heilung und des Wachstums oder der Vergebung entfaltet, entsteht etwas Gottgewolltes, etwas, das den negativen Aspekten des aktuellen Zeitgeistes widerstehen kann. 

Ich wünsche Dir einen solchen Ort der Gemeinschaft.