Infos & Pflegetipps für den inneren Gärtner
Pflanzen brauchen das richtige Licht, die richtige Temperatur, die richtige Menge an Wasser und Dünger, ab und zu den richtigen Beschnitt und das richtige Mittel gegen den entsprechend falschen Schädling, um zu wachsen, zu gedeihen und sich in ihrer vollen Pracht zu entfalten. Je nach Farbe unserer Daumen, wissen wir das. Und falls diese Farbe eher weniger grün ausfällt, wissen wir, wo wir nachschlagen können. Zu jeder Pflanze lassen sich spezifische und detaillierte Pflegehinweise finden.
Wie sieht es bei uns Menschen aus? Auch wir wachsen & reifen. Die stetige Entwicklung ist nicht nur botanisch eine grundlegende Eigenschaft, sondern auch menschlich. Das unterstützen viele psychologische, philosophische und soziologische Perspektiven. So betonen beispielsweise Theorien wie die psychosoziale Entwicklung von Erik Erikson, die kognitive Entwicklung nach Jean Piaget oder die Identitätstheorie von James Marcia die Notwendigkeit und Unvermeidlichkeit von individueller Entwicklung. Nur werden wir besonders individuellen Individuen leider ohne Packungsbeilage oder Pflegehinweise ausgeliefert. Woher wissen wir also, woran wir wachsen? Was braucht ein Mensch, um gesund, groß und stark zu werden?
Artbestimmung
Zunächst ist es wichtig herauszufinden, um welche Pflanze ... pardon ... um welchen Typ Mensch es sich handelt. Auch wir Menschen haben unterschiedliche Bedürfnisse und Eigenschaften, die unbedingt berücksichtigt werden müssen. Was dem einen ein Lebenselixier ist, kann dem anderen schwer zu schaffen machen. “Nicht jeder Mensch entwickelt sich durch einschneidende Lebensereignisse auf dieselbe Art und Weise. Nicht jeder erlebt durch sie gleichstarke Veränderungen in seinem Wohlbefinden. Wir alle unterscheiden uns dadurch, wie wir bestimmte Ereignisse erleben, bewerten und verarbeiten.” (Asselmann, S. 11)
Wenn ich wissen möchte, was mir bei meiner persönlichen Entwicklung hilft, muss ich wissen, wie ich gestrickt bin. Nicht nur unsere Gene, sondern auch was wir erleben, beeinflusst unsere Persönlichkeit und von unserer Persönlichkeit hängt ab, was wir erleben. “Wer offen ist, macht sich am exotischen Urlaubsort eher auf, um Land und Leute kennenzulernen, als derjenige, der ein gewohntes Umfeld schätzt. Ganz abgesehen davon, dass Letzterer sich wahrscheinlich ohnehin ein vertrauteres Reiseziel suchen würde. Wer Harmonie schätzt, verhält sich freundlich und kompromissbereit, wodurch das Risiko für Konflikte, Trennungen und Rechtsstreitigkeiten sinkt. Wer dominant ist, übernimmt ohne Zögern Führungsaufgaben und steigt somit leichter in die Chefetage auf.” (ebd. S. 10)
Eine Empfehlung der Redaktion ist der kostenfreie Test der Universität Leipzig (Link siehe Quelle am Ende), dem das Persönlichkeitsmodell der BIG 5 zugrunde liegt. Es gilt aktuell als eines der besten Ansätze zur Beschreibung von Persönlichkeit, weil es ein breites Spektrum menschlicher Persönlichkeit abdeckt, durch eine umfassende empirische Forschung unterstützt wird, über verschiedene Gesellschaften hinweg einsetzbar ist und Persönlichkeit einfach und dennoch differenziert verständlich zu machen vermag. Die BIG Five sind die fünf großen Schieberegler: Offenheit für neue Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Emotionale Stabilität (siehe Infografik).
“Die großen Fünf sind sogenannte ´dimensionale Merkmale´, was bedeutet, dass sie bei einzelnen Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Wir alle haben sie, doch leben wir sie in verschiedenem Grad. Es gibt also nicht die Extravertierten auf der einen und die Introvertierten auf der anderen Seite. Stattdessen umfasst die Mess-Skala von sehr introvertiert bis sehr extravertiert unendlich viele Punkte und zeigt individuell mal mehr, mal weniger davon an.” (ebd. S. 30)
Wachstumsphasen
Während Pflanzen in ihrer vegetativen Wachstumsphase Blätter, Stängel und Wurzeln und in der generativen Wachstumsphase die Geschlechtsmerkmale wie etwa die Blüten ausbilden, durchlebt ein Mensch zunächst unabhängig vom Persönlichkeitstyp eine komplexere Entwicklung. Erik Erikson entwickelte eine Theorie der psychosozialen Entwicklung, die acht Phasen des Lebenszyklus umfasst. Jede Phase ist durch bestimmte Entwicklungsaufgaben und Krisen gekennzeichnet, die das Individuum bewältigen muss, um eine gesunde psychosoziale Entwicklung zu fördern. In der Grafik auf der nächsten Seite finden sich diese acht Phasen samt ihren Entwicklungsaufgaben und den Konsequenzen bei Nichtbewältigung.
Diese Phasen repräsentieren einen Lebenszyklus, in dem individuelle Entwicklungsaufgaben in Beziehung zu sozialen und kulturellen Kontexten stehen. Die erfolgreiche Bewältigung jeder Phase trägt zur kontinuierlichen psychosozialen Entwicklung und Identitätsbildung des Individuums bei.
Es ist wichtig zu betonen, dass Eriksons Theorie nicht deterministisch ist. Selbst wenn eine Entwicklungsaufgabe nicht vollständig bewältigt wird, gibt es Raum für Anpassung und Veränderung im Laufe des Lebens. Menschen können auf Herausforderungen reagieren, indem sie ihre Strategien und Ressourcen anpassen, um eine positive Entwicklung zu fördern.
Standort
Für ein gesundes Wachstum ist der Standort nicht unerheblich. Gibt es genügend Nährstoffe und Licht? Gibt es dort alles, was ich zum Leben brauche? Auch diese Überlegungen treten in eine Wechselwirkung mit unserer Persönlichkeit. “Unsere Umwelt prägt uns und wir prägen sie – durch unser Denken, Fühlen und Verhalten. Nicht selten selektieren wir uns so in eine Nische: ein Umfeld, das unserer Wesensart entspricht und diese noch weiter verstärkt. Denken wir beispielsweise an die die Arbeit: Wer kreativ ist, ergreift einen künstlerischen Beruf und wird dadurch noch kreativer. Wer sich für Wissenschaft interessiert, geht in die Forschung, wodurch sein Interesse daran (hoffentlich!) weiterwächst. Wer das Risiko nicht scheut, gründet ein Start-up und kann (bzw. muss) dadurch immer öfter Mut beweisen.” (ebd. S. 10)
Menschen mit einer hohen Offenheit für neue Erfahrungen gedeihen in einem Umfeld, das Vielfalt, Kreativität und intellektuelle Stimulation fördert. Sie brauchen Möglichkeiten zur kreativen Entfaltung, Zugang zu neuen Ideen und kulturellen Erlebnissen.
Gewissenhafte benötigen Struktur, klare Ziele und Aufgaben. Sie können sich in Umgebungen, die Organisation, Verantwortung und Leistung belohnen, bestens entfalten.
Extravertierte Personen ziehen Energie aus sozialen Interaktionen. Sie brauchen Gelegenheiten, um mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, sich auszudrücken und aktiv zu sein. Soziale Unterstützung und gemeinsame Aktivitäten sind entscheidend für ihr Wohlbefinden.
Personen mit hoher Verträglichkeit bevorzugen harmonische zwischenmenschliche Beziehungen. Sie fühlen sich in Umgebungen wohl, die Akzeptanz, Kooperation, Empathie und gegenseitiges Verständnis fördern.
Für die persönliche Entwicklung von Menschen mit höherem Neurotizismus sind ein unterstützendes soziales Netzwerk und ein Umfeld, das Sicherheit und Stabilität bietet von entscheidender Bedeutung.
Witterungseinflüsse
Selbst, wenn ich den perfekten Standort gefunden habe, der mir alles bietet, was ich persönlich zur Entfaltung brauche, gibt es da noch die Frage nach dem Wetter. Bin ich für das, was von außen auf mich einprasselt gewappnet?
Weil sich entgegen einer weit verbreiteten Annahme sowohl in der Kindheit als auch in der Jugend eines Menschen in puncto Persönlichkeitsveränderung aufgrund sich gegenseitig ausgleichender Entwicklungsschwankungen (Vgl. ebd. S. 62) recht wenig tut, betont Asselmann besonders die Entwicklungsphase des jungen Erwachsenenalters. Die Empirie bestätigt über alle Länder und Kulturen hinweg, dass die Reifung besonders durch einschneidende Lebensereignisse und gravierende Umbrüche vorangetrieben wird. (Vgl. ebd. S. 65)
“Junge Erwachsende werden im Durchschnitt gewissenhafter, verträglicher, emotional stabiler und sozial dominanter. Dieser robuste Effekt, der auch als ´Persönlichkeitsreifung´ bezeichnet wird (und sich durchaus bis ins mittlere Erwachsenenalter jenseits der 20er hinziehen kann), konnte durch viele Studien bestätigt werden. Der US-amerikanische Persönlichkeitspsychologe Brent Roberts erklärt diese Reifung mit dem sogenannten sozialen Investitionsprinzip. Das junge und frühe mittlere Erwachsenenalter ist durch eine Vielzahl an Lebensereignissen, Übergängen und Neuanfängen geprägt, die unseren Alltag auf den Kopf stellen. Wir fangen an zu arbeiten, führen die erste (ernst zu nehmende) Beziehung, heiraten oder bekommen Kinder. Bedingt durch diese Entwicklungen nehmen wir neue soziale Rollen ein.” (ebd. S. 64) Und genau diese neuen sozialen Rollen gehen mit neuen Anforderungen und Herausforderungen einher, deren Bewältigung uns reifen lässt. Wir entwickeln die notwendigen Skills, um in der neuen Rolle des Arbeitnehmers, Beziehungspartners oder Elternteils eine gute Figur zu machen.
Im Arbeitsleben sorgen besonders der Berufseinstieg und im weiteren Verlauf Karrieresprünge für Entwicklungsschübe. Wir wachsen buchstäblich an unseren Aufgaben.
Auch die Liebe stellt uns vor Herausforderungen, die uns Reifeschritte gehen lassen: Bei Männern hat das Zusammenziehen mit der geliebten Person den größten Effekt und bei Frauen bittererweise die Trennung. (Vgl. ebd. S. 90)
Übrigens liefert der Kindersegen überraschenderweise keinen wesentlichen Effekt in Hinblick auf die Persönlichkeitsentwicklung der frisch gebackenen Eltern. “Die Annahme, dass ein Kind in diesem Sinne per se ´reifer´ macht, bestätigte sich nicht. Was auf den ersten Blick überraschen mag, ist auf den zweiten plausibel.” (ebd. S. 106) Junge Familien sind zunächst mit ihrem turbulenten Alltag und dem Nachwuchs beschäftigt. Da bleibt wenig Raum für persönlichen Rückzug, qualitative Zweisamkeit, Kultur oder intellektuelle Interessen. Solche “Unternehmungen sind mit kleinkindlichen Bedürfnissen nicht einmal peripher deckungsgleich” (ebd.) und somit rückt das persönliche Weiterkommen zunächst in den Hintergrund.
Schädlingsbekämpfung & Düngemittel
Die Schädlinge, die uns Menschen zu schaffen machen und manchmal sogar einen Rückschritt in unserer Entwicklung verursachen, sind vielfältig. Stress, Krankheit und Verlust, Jobkrisen wie Kurzarbeit, Berufsunfähigkeit oder Arbeitslosigkeit sind einige davon. Und auch in diesem Bereich kommt es auf unsere Persönlichkeit und unser Strickmuster an. Es ist nicht entscheidend, welche oder wie viele Schicksalsschläge oder Krisen wir erleben, sondern wie wir damit umgehen können - welche “Düngemittel” wir zur Verfügung haben. Menschen, die hohe Werte in den BIG-Five-Merkmalen erreichen, haben nachweislich weniger Angst- und Depressionssymptome (ebd. S. 82) in solch schweren Zeiten. Menschen, die eine höhere Resilienz bzw. Widerstandsfähigkeit haben, Situationen optimistischer bewerten, eine positivere Grundeinstellung zum Leben, eine höhere Selbstkontrollüberzeugung und ein stabileres Selbstwertgefühl haben, kommen wesentlich unbeschadeter durch die Katastrophen ihres Lebens und können sogar Lern- und Reifungseffekte daraus ziehen.
Die gute Nachricht ist, dass wir Menschen überaus lern- und anpassungsfähig sind. Wer all diese Schlagworte traurig betrachtet und sich damit schlicht unterversorgt fühlt, sei gewiss: Das lässt sich ändern! Wir können das lernen! Es geht nicht schnell und es ist auch nicht einfach, aber es ist möglich! Im BRUNNEN erleben wir oft, wie Menschen sich und ihre Nöte Gott hinhalten, mit anderen darüber sprechen, sich gegenseitig unterstützen, sich professionelle Hilfe suchen und sich mutig und durchaus erfolgreich auf den Weg der Veränderung machen.
Dabei ist es wichtig, sich selbst zu schützen, Raum für Erholung und Reflexion zu schaffen und ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Wachstum und Stabilität zu finden. Und auch hier gilt selbstverständlich: jeder nach seinem persönlichen Strickmuster.
Früchte & Ernte
Leute, die Arbeit lohnt sich! Wer sich auf persönliches Wachstum einlässt, kann reiche Ernte einfahren. Die positiven Auswirkungen auf das persönliche Wohlbefinden, die zwischenmenschlichen Beziehungen und die Gesellschaft als Ganzes sind vielfältig. Wir erleben durch persönliche Entwicklung, dass wir unsere gottgegebenen Fähigkeiten entfalten können und erlangen ein Gefühl der Selbstverwirklichung. Das schenkt uns einen tiefen Lebenssinn und Lebenszufriedenheit. Persönliche Entwicklung eröffnet einen Raum für die Entfaltung kreativer Potenziale und individueller Talente. Dies trägt nicht nur zum persönlichen Erfolg, sondern auch zum kulturellen und gesellschaftlichen Fortschritt bei. Des Weiteren kann sie mit einer verbesserten psychischen Gesundheit verbunden sein. Die Fähigkeit, mit Stress umzugehen, Resilienz zu entwickeln und ein positives Selbstkonzept aufzubauen, sind wichtige Aspekte des individuellen Wohlbefindens. Wir können unsere sozialen und emotionalen Fähigkeiten verbessern. Die Fähigkeit zur Empathie, zum Verständnis und zur Kommunikation trägt zu gesunden zwischenmenschlichen Beziehungen bei. Menschen, die sich persönlich weiterentwickeln, ihre Fähigkeiten und Ressourcen nutzen, neigen dazu, auch positiv zur Gemeinschaft beizutragen.
Ich wünsche uns allen Lust und Freude an jedem einzelnen Entwicklungsschritt – jeden Tag werden wir ein Stück mehr zu der Person, die Jesus vor Augen hatte, als er uns erdacht hat. Nur Mut, es ist lohnend & fabelhaft!
Quellen & Tipps der Redaktion
- “Individuation: Wie wir werden, was wir sein wollen.” Dr. Christina Berndt liefert spannende Einblicke in die neuere Forschung, zeigt Persönlichkeitstests und Fallbeispiele und präsentiert so eine faszinierend gute Nachricht: Wir haben stets die Möglichkeit, uns neu zu erfinden.
- Woran wir wachsen: Welche Lebensereignisse unsere Persönlichkeit prägen und was uns wirklich weiterbringt. - Die neuesten Erkenntnisse aus der Persönlichkeitspsychologie von Eva Asselmann, Martina Pahr, et al.
- Podcast: Betreutes Fühlen Folge 177: Ich will mich verändern
- Kostenloser Persönlichkeitstest der Uni Leipzig: https://www.lw.uni-leipzig.de/wilhelm-wundt-institut-fuer-psychologie/arbeitsgruppen/persoenlichkeitspsychologie-und-psychologische-diagnostik/persoenlichkeitstest